Jubiläum: Mit "Y.M.C.A." startete der schwule Pop durch - WELT (2024)

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Felipe Rose betreibt heute in Richmond, in Virginia, einen Plattenladen. Vor 400 Jahren trafen hier die Siedler auf den Stamm der Powhatan. Vor 33 Jahren trafen zwei Franzosen auf Felipe Rose, 300 Meilen nördlich, in New York: Der Abkömmling der Sioux tanzte im „Anvil“ mit freier Brust und Kopfschmuck.

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Wenn man den Berichten der Franzosen trauen darf, tanzten nicht nur Indianer in der Schwulenbar. Auch Cowboys, Polizisten und Soldaten. Das Idyll brachte die Freunde Jacques Morali (hom*o) und Henri Belolo (hetero) auf den Gedanken, eine passende Gesangsgruppe zu gründen.

Rose, als hüpfender Ureinwohner, war gesetzt. Beim Casting überzeugte der Komparse Victor Willis, er wurde zum singenden Polizisten. Randy Jones, einen besonders emsigen Disco-Gänger, kostümierten sie als Cowboy. Der gelernte Kirchensänger Alexander Briley stieg in die Soldatenuniform. Glenn Hughes verließ sein Kassenhaus am Brooklyn-Battery-Tunnel und trug fortan, was er ohnehin trug: Leder zum Motorrad fahren. Und zum Bauarbeiter wurde David Hodo, ein vernarbter Feuerschlucker.

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Das Sextett bekam den Namen Village People. Im New Yorker Greenwich Village konzentrierte sich das Unterhaltungsangebot für Schwule. 1969 führte eine Polizei-Aktion im Stonewall Inn zu tagelangen Straßenkämpfen zwischen Publikum und Polizei. Rund um die Christopher Street. Seither erinnern bunte Straßenumzüge in aller Welt daran, dass Schwulsein 40 Jahre später in der Regel weder strafbar noch sensationell sein sollte.

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1979 kam die Botschaft an. Zehn Jahre nach dem Stonewall-Aufstand ging ein Lied tatsächlich um die Welt. „Y.M.C.A.“ der Village People kam im Januar 1979 in Amerika hinter Rod Stewarts „Da Ya Think I’m Sexy?“ auf Platz zwei. Im Rest des Westens landete die Hymne auf Platz eins, sogar in Deutschland.

Die sechs singenden Männer platzten in die Zeit des Karnevals, im Sommer wurde ihr „Y.M.C.A.“ von „In The Navy“ abgelöst. Die Village People hatten sich rasant hinaus getanzt aus einer eher geschlossenen Gesellschaft, aus der Subkultur. Die erste Single, „San Francisco“, spielte sich noch 1977 ausschließlich in einschlägigen Discos ab. Schon „Macho Man“ erreichte ein Jahr später landläufige Diskotheken. Und „Y.M.C.A“ ging, wie man damals sagte, durch die Decke.

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Jacques Morali und Henri Belolo, die Pariser Produzenten, haben es gern so geschildert: Sie spazierten durch New York, als ihnen ein YMCA-Stützpunkt ins Auge fiel. Ein Schild der „Young Man’s Christian Association“. Belolo fragte: „Was ist das?“ – „Ein Ort, wo viele Männer hingehen, wenn sie neu in dieser Stadt sind. Da können sie Freunde finden, um mit ihnen auszugehen“, gab der Schwule seinem heterosexuellen Freund zur Antwort, und der war begeistert.

„Lass uns einen Song darüber schreiben!“ rief Belolo. Das fast fünf Minuten lange Stück erschien als Single, auf der Hülle zeigten strammen Burschen ihre Fahrzeuge wie unter Männern üblich: Mein Geländewagen, mein Motorrad, mein Bagger, mein Hengst.

„Junge!/ Du brauchst dich nicht mies zu fühlen wegen dieser neuen Stadt/ Du musst nicht traurig sein/ Es gibt da einen Ort, wo du ganz sicher viele Wege findest, dich zu amüsieren/ Es macht Laune beim YMCA.“ Der Radio-DJ Franki Crocker ließ die Single mit den scharfen Bläsern Ende 1978 unablässig laufen. Sie lief in den Clubs, sie breitete sich aus. Die Village People sprangen zu „Y.M.C.A.“ durchs Fernsehen. Männlich wirkten sie auf Männer und auf Frauen jeder Art.

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Die Village People taten sich, den Schwulen und dem Rest der Menschheit den Gefallen, nicht als Tunten, hom*oaktivisten oder Opfer aufzutreten. Ob aus kulturellen oder ökonomischen Erwägungen, war immer schon egal. So eindeutig die Charaktere auf die Szene wirkten: Für die Außenwelt waren es Polizisten und Soldaten, Bauarbeiter und Motorrad-Rocker, Cowboys und Indianer, die in einem christlichen Verein zu guten Freunden wurden, miteinander tanzten und den Herrgott einen guten Mann sein ließen.

Schwule Anspielungen waren in den Goldenen Zeiten Hollywoods bereits die Regel, wie am Broadway. Adressaten freuten sich. Noch mehr ergötzten sie sich allerdings daran, wenn sich der hom*ophobe Mainstream aus Versehen für so etwas wie „Y.M.C.A.“ erwärmte.

1979 schwante es dem Mainstream schon beizeiten, auch in Deutschland. Sunday, ein Berliner Schlager-Unternehmen, sang „C.V.J.M.“ und sprach neben den Männern auch die Mädchen an. Im Sinn des „Christlichen Vereins Junger Menschen“. Dennoch klagte Gerhard Weber, der damalige Generalsekretär in Poppenbüttel: „Dieser Hit mag prima in die Beine gehen. Das heißt aber nicht, dass junge Leute anschließend auch ihre Schritte zum CVJM lenken.“

Als Schleichwerbung wurde die deutsche Fassung wie ihr Original vorübergehend vom Süddeutschen Rundfunk boykottiert. Der männerbündische YMCA begrüßte unterdessen in Amerikas zahlreiche Neumitglieder. Deshalb regte die US-Marine zur Rekrutenwerbung auch die Village People an zu „In The Navy“ und stellte das Personal zum Dreh des Videos zur Verfügung.

Seitdem ist Schwulsein Teil des Alltags

Man kann sagen: Seither ist das Schwulsein nicht nur Teil des Nachtlebens, sondern des Alltags. Unvergessen, als der „Spiegel“ 1979, in der ersten Märzausgabe, das Geheimnis vom „Y.M.C.A.“ enthüllte: „In seinem Disco-Song geht es dem maskulin kostümierten Sextett kaum um Mitgliederwerbung für die 1844 gegründete biedere ‚Young Men’s Christian Association’, verhohlen wird eher in eine andere Stoßrichtung missioniert.“

Mitglieder, Stoßrichtung, Hohoho. Dass ahnungslose heterosexuelle Männer ebenfalls Gefallen an den Village People fanden, wunderte den „Spiegel“ überhaupt nicht: „Die enorme Beliebtheit des Schlagers signalisiert freilich weniger ein weltweites Übersetzen zum anderen Ufer, als das Wiedererwachen eines Männlichkeitskults, durch das verunsicherte Herren aller Länder zermürbende Mühen mit den Forderungen des neuen weiblichen Selbstbewusstseins abschütteln möchten.“ Junge, Junge.

In der Zwischenzeit ist einiges passiert. Die Achtziger brachten die Aids-Tragödien. Zunächst kleideten die Village People sich in schwarz wie Neuromantiker, dann motteten sie trotzig die Kostüme wieder aus und sangen „Sex Over The Phone“. Ihr geistiger Vater, Jacques Morali, starb an Aids, am 15. November 1991.

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In den Neunzigerjahren tanzte auch die deutsche Fußballnationalmannschaft mit dem Gesangsverein der Village People. In den Stadien brüllten selbst die stiernackigsten Säufer von den Stehrängen „Go West“. „Y.M.C.A.“ wurde zur Vorlage für unzählige Hymnen auf Personen, Nationalverbände, Sachverhalte oder Industrieprodukte mit vier Buchstaben.

Am Neujahrstag 2008 stellten in Texas 45 000 einen Weltrekord im Massentanzen auf, indem die Tanzenden synchron „Y.M.C.A“ mit ihren Körpern buchstabierten. Wie viele Computerspieler sich in „Grand Theft Auto“ in die Village-People-Charaktere fantasierten, weiß man nicht.

Kulturhistorisch hat „Y.M.C.A.“ die schwulen Ausdrucksmittel so gewöhnlich werden lassen, dass sie längst nicht mehr als solche wahrgenommen werden müssen. „Die Musik der Achtzigerjahre, war ohne ‚Y.M.C.A.’ nicht denkbar. Bands wie Bronski Beat oder die Pet Shop Boys schon gar nicht“, sagt Neil Tennant von den Pet Shop Boys.

Heute besteht das Publikum von Rufus Wainwright und Antony Hegarty aus sämtlichen Geschlechtern mit allen nur denkbar orientierten Vorlieben. Wer den Verdienst der Village People würdigen will, kann sich den Quatsch vom metrosexuellen Mann ersparen. Zu wie viel Prozent waren die Village People schwul? Wen interessiert das?

Wen es interessiert: Felipe Rose ist schwul, er lebt mit einem Mann in Richmond. Vor drei Jahren hat er seine Goldene Platte für „Y.M.C.A.“ dem Nationalmuseum der Amerikanischen Indianer überreicht, in Washington.

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